Predigt zum 14. Sonntag nach Trinitatis, 17. September 2006
Gnade werde Euch zuteil und Friede – mit diesen Worten beginnt der Brief, den
Paulus gemeinsam mit Silvanus und Timotheus an die Thessalonicher schrieb, der
erste Brief an die Thessalonicher, dessen folgende Verse den heutigen Predigttext bilden. Für mich
war es ein schwieriger Text, nicht weil er etwas enthielte, was mich
anföchte, sondern weil es schwierig ist, in ihm etwas zu entdecken, was
uns anspricht und nicht gewissermaßen ein Privatgespräch zwischen
den drei Briefschreibern und der adressierten Gemeinde wäre. Auch in
diesem Text geht es, wie schon in den Liedern, die Frau Hübler-Umemoto
für diesen Gottesdienst ausgewählt hat, um eine Danksagung. Wir
hören den ganzen Predigttext, das sind die Verse 2 bis 10 aus dem ersten
Kapitel.
[2] Wir danken Gott immer dafür, dass es Euch alle
gibt, indem wir in unseren Gebeten erwähnen [3] und vor unserem Gott und
Vater ohne Unterlass denken an Euer Glaubenswerk, Euere Liebesmühe und an
Euere geduldige Hoffnung auf unsern Herrn Jesus Christus; [4] denn
wir wissen, gottgeliebte Brüder, dass Ihr auserwählt wart, [5] auf
dass unser Evangelium nicht allein im Wort zu euch komme, sondern in seiner
Wirkungskraft und in Gestalt des heiligen Geistes und in großer
Gewissheit; und Ihr wisst ebenso, wie wir in
Euch und durch Euch gewachsen sind. [6] Und ihr seid unsere und des Herrn
Nachahmer geworden, indem ihr das Wort in großer Bedrängnis mit der
Freude des heiligen Geistes angenommen habt, [7] so dass ihr für alle
Gläubigen in Mazedonien und Achaia zum Vorbild geworden seid. [8] Denn von
euch aus ist das Wort des Herrn nicht allein in Mazedonien und Achaia
erklungen, sondern die Kunde von euerem Glauben an Gott ist überall hin
vorgedrungen, so dass es nichts mehr gibt, was wir irgendwelchen Leuten
darüber sagen könnten. [9] Denn diese selbst berichten an unserer
Stelle, welchen Eingang wir bei Euch gefunden haben und wie Ihr Euch bekehrt
habt zu Gott, weg von den Götzen, um dem lebendigen und wahren Gott zu
dienen [10] und um auf seinen Sohn von den Himmeln zu warten, den er von den
Toten auferweckt hat, Jesus, der uns von dem kommenden Zorn errettet.
An dem ersten Thessalonicherbrief, wenn man ihn als ganzen
liest, ist zunächst einmal erstaunlich, dass er kein eigentliches Anliegen
hat. In vielen allgemeinen Sätzen wird die gute Beziehung zwischen den
Autoren und den Adressaten gelobt; die Autoren freuen sich über gute
Nachrichten aus der Gemeinde, die aber nicht näher erläutert werden;
und es werden einige Mahnungen zum christlichen Leben ausgesprochen, die aber
wiederum so allgemein sind, dass die zehn Gebote dagegen geradezu ein
detailliertes Gesetzbuch darstellen. Im übrigen steht der Text im Zeichen
der im damaligen Christentum vorhandenen Naherwartung des Weltendes und einer
Rückkunft des Messias. Warum wurde dieser Brief aber geschrieben, warum
wurde er aufbewahrt, warum wurde er ein Teil unserer heiligen Schrift?
Man wüsste gerne mehr über die Hintergründe
dieses Briefes, über die Vorkommnisse, die nur angedeutet werden, und
über die damalige Gemeinde in Thessaloniki. Es ist sicher, dass sie eine
der ersten griechischen und damit eine der ersten europäischen
Christengemeinden überhaupt war. Vermutlich handelte es sich um eine
vorwiegend heidenchristliche Gemeinde, die Gläubigen waren also keine
Juden. Paulus war auf seiner zweiten Missionsreise dorthin gekommen und schrieb
diesen Brief noch auf derselben Missionsreise, entweder in Athen oder in
Korinth. Er hatte von Timotheus neue Nachrichten über seine Gemeinde
vernommen, und er spricht davon, dass diese Nachrichten gute seien.
Die lange Dankpassage am Anfang und die ihm folgende Selbstdarstellung
von Paulus’ Wirken in Thessaloniki erscheint zunächst als Topos, der in
vielen antiken Briefen angewendet wurde, um Wohlwollen beim Adressaten zu
erzeugen. Es wäre die typische Einleitung für einen Brief, in dem
eine große Bitte geäußert wird. Aber eben dieses Anliegen
scheint zu fehlen. Eine mögliche Deutung ist, dass es sich gewissermaßen
um eine Verteidigungsschrift handelt, da Paulus in dieser Zeit mit dem Vorwurf
der Veruntreuung von Geldern zu tun hatte. Der Brief könnte ein Mittel
gewesen sein, unliebsamen Gerüchten entgegenzuwirken und die Bindung der
Gemeinde an den Apostel zu erneuern.
Äußerlich ist der ganze Absatz ein Dank an Gott, verbunden
mit der Begründung für die Dankbarkeit. An den Adressaten gerichtet
fällt jedoch die übertriebene Darstellung der Verdienste der Gemeinde
auf: Der Ruhm ihrer Glaubenstreue habe sich nicht nur in Mazedonien und Achaia,
sondern überall so verbreitet, dass Paulus darüber gar nicht mehr zu
berichten brauche. Das ist kaum vorstellbar. Die Gemeinde in Thessaloniki,
damals bereits einer großen Stadt, wird zu dieser Zeit nach Auffassung
heutiger Kirchengeschichtler kaum mehr als einige -zig Mitglieder umfasst
haben, und die Situation war alles andere als gefestigt.
Das drückt sich auch darin aus, dass der Gemeinde im weiteren
Verlauf des Briefes so elementare Mahnungen mit auf den Weg gegeben werden wie
die, dass die Männer ihre Geschäftspartner nicht übervorteilen
sollen und innerhalb der Gemeinde die Nächstenliebe pflegen.
Auffällig ist, dass gefordert wird, ein ehrbareres Leben zu führen
als die Heiden draußen. Wir haben es hier also mit einer heidenchristlichen
Gemeinde im ersten Stadium zu tun; anders als die Judenchristen waren sie mit
biblischen Moralvorstellungen noch nicht vertraut. Es muss also einiges im
Argen gelegen haben; dass hier statt einer differenzierten Belehrung einige
kursorische Anmerkungen ausreichen, überrascht schon.
Falls es wirklich eine Verteidigungsschrift gewesen sein sollte, fragt
man sich, warum sie so lange aufbewahrt und sogar in den Kanon der heiligen
Schrift aufgenommen wurde, denn den Beteiligten musste der aktuelle
Zusammenhang ja klar sein.
Mir kommt daher eine etwas andere Deutung dieses Briefes in den Sinn,
die zumindestens die Bedeutung erklärt, die dem Brief aus der
Rezeptionsperspektive beigemessen wurde.
Es ist unbestritten, dass der erste Thessalonicherbrief eine der
ältesten Schriften des Neuen Testaments ist, vielleicht sogar die
allerälteste. Wir müssen versuchen, uns in die Zeit der Heidenmission
um 50 nach Christus hineinzuversetzen, um zu verstehen, was das bedeutet.
Etwa 20 Jahre nach Jesu Tod wurde das Evangelium noch durch lebende Zeugen
verkündet, und insbesondere angesichts der Naherwartung des Weltendes gab
es kaum Anlass, auf eine schriftliche Fixierung dieses lebendigen Wissens zu
dringen. Das Evangelium erreichte die Menschen als flüchtiges Wort, und
man konnte diesem Wort glauben schenken oder nicht. Es gehört auch nicht
viel Phantasie dazu sich auszumalen, dass nicht alle Anhänger Christi die
gleichen Worte verbreiteten; die viel später aufgeschriebene
Apostelgeschichte gibt auch davon Zeugnis.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die hochinteressanten
Ausführungen eines Mönchs aus dem 9. Jahrhundert, der eine Systematik
der sieben antiken Wissenschaften – der septem artes liberales –
aus dem Unterschied zwischen Wortwissenschaften und mathematischen
Wissenschaften erklärt. Das sogenannte Trivium, die drei
Wortwissenschaften, bestand aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik; das Quadrivium,
die vier mathematischen Wissenschaften, aus Arithmetik, Geometrie, Musik und
Astrologie. Nun bezieht dieser Mönch die Sprachwissenschaften auf das Ohr
und die mathematischen Wissenschaften auf das Auge, denn er sagt, die
Sprachwissenschaften beruhten auf dem Wort, und das Wort könne nicht
gesehen werden, man könne nicht mit dem Finger auf es zeigen, sondern man
könne es nur hören. Die mathematischen Wissenschaften könnten
hingegen auf keine Weise begriffen werden ohne dass man sie optisch anschaulich
mache und mit dem Finger auf sie zeige.
Für die Interpretation unseres Thessalonicherbriefes ist es von
größter Bedeutung, zu erkennen, dass hier das Wort nicht als
geschriebenes Wort, sondern als mündliches Wort aufgefasst wird. –
Man kann auf Worte nicht mit dem Finger zeigen – das gilt nur für
das gesprochene Wort, nicht für das geschriebene Wort.
Für uns ist, (auch, wenn wir den Tessalonicherbrief als
Predigttext betrachten), das Wort Gottes heute primär ein geschriebenes
Wort, die heilige Schrift,
nicht der heilige Ausspruch.
Im Judentum ist das geschriebene Wort Gottes schon vor der Zeit Jesu von
großer Bedeutung gewesen, etwa wenn Moses von Gott die Gesetzestafeln
empfangen hat. Im Thessalonicherbrief aber haben wir es mit einer
Heidengemeinde zu tun. Der Glaube in dieser Gemeinde hatte überhaupt keine
heilige Schrift. Paulus hat, anders als Petrus, von seinen bekehrten
Anhängern nicht verlangt, dass sie Juden wurden, um Christen zu werden.
Somit hatten sie nichts Schriftliches, an das sie sich halten konnten.
Es heißt im Predigttext: „denn wir wissen,
gottgeliebte Brüder, dass Ihr auserwählt wart, [5] auf dass unser
Evangelium nicht allein im Wort zu euch komme, sondern in seiner Wirkungskraft
und in Gestalt des heiligen Geistes und in großer Gewissheit“. „Nicht allein im Wort“,
hier ist nicht vom Wort Gottes die Rede, sondern von den Worten derer, die
davon berichten. Die „Wirkungskraft“ Gottes, der „heilige Geist“
und die „große Gewissheit“ waren das Entscheidende, nicht die
Worte, mit denen sie verkündet wurden. Und es war auch in den Augen von
Paulus ein Wunder, dass sich diese Kraft, dieser Geist und diese Gewissheit
verbreiteten. Dafür konnte man Gott danken.
Die enorme Bedeutung dieses Briefes resultiert aus der
Tatsache, dass er eben das erste schriftliche Dokument war, an dem die junge
Gemeinde sich festhalten konnte. Der Gedanke, dass sich in diesen Worten ein
wesentlicher Inhalt festmachen könnte, war vielleicht dem Denken der
damaligen Gemeinde überhaupt noch fremd. Alles Konkrete wird umgangen, das
Dokument ist kaum mehr, aber auch nicht weniger als ein handfester Beleg
für die Existenz des Schreibers und für seine Beziehung zur Gemeinde.
Gleichzeitig aber gibt es uns Einblick in die Spiritualität des Paulus.
Paulus sagt nicht „Liebe Gemeinde, ich bin Euch
unendlich dankbar dafür, dass Ihr mir in schweren Zeiten Treue bewiesen
habt. Ich denke täglich an Euch und bitte Euch: Bleibt mir auch
künftig treu.“ Das sagt er nicht. Er dankt nicht der Gemeinde. Sondern er
schreibt, gemeinsam mit seinen Mitautoren:
[2] Wir danken Gott immer dafür, dass es Euch alle
gibt, indem wir in unseren Gebeten erwähnen [3] und vor unserem Gott und
Vater ohne Unterlass denken an Euer Glaubenswerk, Euere Liebesmühe und an
Euere geduldige Hoffnung auf unsern Herrn Jesus Christus.
In einer unsicheren Welt, wo man vor Verfolgung aus
religiösen Gründen seines Lebens nicht sicher sein konnte, hätte
ein persönlicher Dank und eine persönliche Beziehung sicherlich auch
viel bedeutet, aber es war eben doch weniger, als was hier ausgedrückt
wird. „Wir“, sagt Paulus, „wir danken dafür, dass es Euch alle
gibt, jeden einzelnen von Euch“. Nicht ich, sondern wir, die
Christen, sind durch Gottes Gnade mit Euch verbunden, und Ihr gehört zu
uns. Und wir danken nicht Euch, sondern wir danken Gott
dafür, dass wir Euch haben.
Insofern ist dieser Text nicht nur ein Dokument des Bundes
zwischen Paulus und den Tessalonichern, sondern er ist für uns ein Zeichen des
Bundes aller Christen miteinander. Wenn es wahr ist, dass dies das älteste
Buch des Neuen Testaments ist, können wir sogar sagen: Mit diesem Brief
beginnt das Neue Testament unserer Kirche. Hier wird das Testament, das Jesus
im Abendmahl mit seinen 12 Jüngern geschlossen hat, zu einem Testament
für alle Gläubigen. Wer haltlos ist, kann dieses Testament in die
Hand nehmen, und es vergeht nicht wie die vielen flüchtigen Worte, die
über den Glauben gemacht werden.
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Dennoch bleibt bei mir am Schluss ein großes Fragezeichen. Was ist mit all den Menschen,
die von Gottes Wort nicht erreicht wurden, und was ist mit denjenigen, die
Gottes Wort in anderer Form erreicht hat und die deshalb anderen Religionen
anhängen? Diese Frage ist gerade in dieser Woche wieder in sehr unfeiner
Weise an die Öffentlichkeit gekommen durch die muslimische Reaktion auf
Papst Benedikt XVI. Regensburger Vorlesung. Ich habe den Text der Vorlesung
genau studiert und muss sagen, dass er zu Recht kritisiert, aber zu Unrecht
angefeindet wird.
Das Problem an seinem Text ist weniger das eine Zitat, in dem der
byzantinische Kaiser Manuel II. Palaeologos seinem muslimischen
Gesprächspartner gegenüber sagt, dass der Islam „nur Schlechtes und Inhumanes“ hervorgebracht habe.
Da es ein wissenschaftlicher Dialog war, der damals angesichts einer realen
militärischen Bedrohung durch islamische Streitkräfte geführt
wurde, lässt sich der Ausdruck leicht als herausfordernde Rhetorik
entlarven, und wie der Papst nachvollziehbar gezeigt hat, zielten die
Äußerungen des byzantischen Kaisers auf den vernünftigen Dialog
mich Worten, statt das Schwert sprechen zu lassen.
Papst Benedikt entwickelt dann seine Hauptthese von der Entwicklung des
Christentums aus einer Synthese zwischen den orientalischen Wurzeln und
griechischer Philosophie. Ein Dialog zwischen den Kulturen, so führt er
aus, sei nur über die Vernunft überhaupt denkbar, und die Wurzel
dieser Vernunft sieht er eben in dieser griechischen Philosophie.
Es hätte nun genügt, die anderen Kulturen auf ihre eigenen
Vernunfttraditionen zu verweisen, um zu zeigen, wie sich der interkulturelle
Dialog künftig entwickeln kann, ohne dass die einzelnen Kulturen ihre
Identität preisgeben müssen. Stattdessen sagt der Papst im Vortrag
dieses:
Dieses hier angedeutete innere Zugehen aufeinander, das
sich zwischen biblischem Glauben und griechischem philosophischem Fragen
vollzogen hat, ist ein nicht nur religionsgeschichtlich, sondern
weltgeschichtlich entscheidender Vorgang, der uns auch heute in die Pflicht
nimmt. Wenn man diese Begegnung sieht, ist es nicht verwunderlich, daß
das Christentum trotz seines Ursprungs und wichtiger Entfaltungen im Orient
schließlich seine geschichtlich entscheidende Prägung in Europa
gefunden hat. Wir können auch umgekehrt sagen: Diese Begegnung, zu der
dann noch das Erbe Roms hinzutritt, hat Europa geschaffen und bleibt die
Grundlage dessen, was man mit Recht Europa nennen kann.
So richtig diese Worte inhaltlich sein mögen, so falsch und
schädlich ist die Fixierung dieses Inhalts auf eine Weltregion, und man
muss sagen, nicht nur schädlich, sondern höchst erstaunlich
angesichts einer katholischen Weltkirche, die ihre größte
Anhängerschaft längst in Afrika und Südamerika hat. Warum muss
hier eine Weltregion, die lange genug andere Kulturen bevormundet hat, Anspruch
auf weitere Vormundschaft erheben? Sollen die anderen Kulturen etwa — so
wie Japan in der Meiji-Zeit — gesenkten Hauptes die Vorherrschaft
annehmen, im sicheren Wissen, doch niemals ein vollwertiges Mitglied in ihrem
Kreis zu werden? Wäre es nicht besser, auf die anderen zuzugehen und mit
Paulus zu sagen: [2] Wir danken Gott immer
dafür, dass es Euch alle gibt. ? Und
dann vielleicht in leisen Tönen auf einige wenige Grundregeln hinzuweisen,
ohne die mit uns ein Zusammenleben nicht stattfinden kann.
Gnade werde Euch zuteil und Friede — diese Worte, mit denen
das Neue Testament vielleicht begann, die möchten wir uns heute nicht nur
für unsere Glaubensgenossen, sondern für alle Menschen auf der Erde
von Gott erbitten.
Amen.