Predigt am
Sonntag, dem 2. September 2007
Liebe
Gemeinde,
der
Predigttext zum heutigen Sonntag steht im Matthäusevangelium, 6. Kapitel,
Vers 1 bis 6:
Habt
acht, dass ihr nicht darum vor den Menschen gerecht handelt, damit ihr gesehen
werdet: andernfalls habt ihr dafür keinen Lohn von Eurem Vater im Himmel
zu erwarten. Wenn du aber Almosen gibst, so posaune es nicht vor dir aus, wie
es die Heuchler in den Synagogen und Wohnstraßen tun, damit sie von den
Menschen geehrt werden. Wahrlich ich sage euch: sie haben ihren Lohn bereits
erhalten. Beim Almosen Geben soll deine linke Hand nicht wissen, was die
rechte tut, damit deine Wohltätigkeit im Verborgenen bleibe und
damit dein Vater, der im Verborgenen alles sieht, es dir vergelte.
Der
Predigttext zum heutigen Sonntag steht in einer Linie mit den beiden
Lesungstexten. Im ersten Johannesbrief, der Epistel zum heutigen Sonntag, wurde
uns gesagt: Wir sollen einander lieben, und zwar ohne Vorbedingung, weil Gott
uns zuerst geliebt hat ohne jede Vorbedingung. Das heißt gleichzeitig:
Wenn wir lieben, soll unser Antrieb nicht sein, selbst geliebt zu werden. Denn
wir sind schon geliebt von Gott, und das ist Grund genug. Wenn uns ein anderer
Mensch nicht liebt, sondern vielleicht sogar hasst, sollen wir ihm deshalb unsere
Liebe nicht entziehen; so wie es uns Jesus Christus vorgemacht hat, der die
Menschen, die ihn gekreuzigt haben, bis zum Schluss geliebt hat. Am radikalsten
scheint mir jener Satz in der Epistel zu sein: Darin zeigt sich die Liebe:
nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und
gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. Ihr Lieben,
hat uns Gott also geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Nicht
unsere Liebe Gottes, sondern die Liebe Gottes zu uns steht am Anfang. Und es
ist nicht möglich, Gottes Liebe anders zu erwidern als dadurch, dass wir
unsere Mitmenschen lieben.
Das
Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das wir danach gehört haben,
drückt dasselbe nur in anderen Worten aus. Was ist ein Samariter? Es ist
ein Mitglied einer vom Judentum abgespaltenen Gemeinschaft, aus der Sicht der
Juden also ein Volksmitglied mit einem Irrglauben. Und Jesus sagt: Derjenige
handelt richtig, dem die Liebe zu seinen Mitmenschen wichtiger ist als die
richtige Religion; der nicht zuerst nach seinem Heil fragt, sondern sich ohne
Vorbedingungen dem anderen zuwendet.
Der heutige
Predigttext ist allerdings noch erheblich radikaler, und im Grunde fordert er
von uns Unmögliches. In seiner letzten Konsequenz sagt er: Wenn ihr versucht,
Gutes zu tun, seid ihr schon auf dem falschen Weg. Nicht aus dem Antrieb, Gutes
zu tun, sondern aus dem reinen Antrieb der Liebe sollt ihr handeln. Allein der
Gedanke, ob wir moralisch gut handeln, ist schon ein eigennütziger
Gedanke; denn die moralische Handlung ist auf unserer Seite, und eine aus der
reinen Liebe geborene Handlung denkt nicht an uns, sondern nur an das
Gegenüber. Es heißt im Text: Beim Almosen Geben soll deine linke
Hand nicht wissen, was die rechte tut, damit deine Wohltätigkeit im Verborgenen
bleibe. Deine linke Hand soll nicht wissen, was die rechte tut,
das heißt, wir sollen über unsere Handlung nicht reflektieren, wir
dürfen nicht einmal selbst erkennen, dass wir etwas Gutes tun. Sobald wir
unsere gute Handlung selbst erkennen und glücklich sind, dass wir ein
gutes Werk getan haben, haben wir ja unsere Belohnung schon erlangt und
brauchen keine weitere Belohnung von Gott mehr zu erwarten.
Mich
erinnert dieser Text an das Ende des Gleichnisses vom reichen Jüngling, wo
es heißt: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein
Nadelöhr gehe, denn dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.g Die
Jünger entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander: Wer
kann dann selig werden? Genau dies frage ich mich auch bei
unserem heutigen Predigttext. Etwas Gutes zu tun, ohne dafür eine
Belohnung von dem Begünstigten oder von anderen Menschen zu erwarten, das
kann ich mir noch vorstellen. Aber aufgefordert zu werden, Gutes zu tun, ohne selbst zu wissen,
dass man Gutes tut — das scheint mir so, wie wenn jemand mir sagt:
„Tu dies und das, aber pass ja auf, dass du es nicht absichtlich tust.g
Oder anders gesagt: Du sollst dich bemühen, gut zu sein, aber du darfst
dich nicht bemühen, gut zu werden. Ein unerreichbarer Idealzustand wird
uns vor Augen geführt, und damit wir ja nicht denken, wir könnten ihn
erreichen, wird uns gesagt, dass das Bemühen darum uns vom Weg nur
abführt.
Mir scheint
auch ein gewisser Widerspruch in den Forderungen Jesu zu liegen. Denn er sagt
ja: Wenn du aber Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was die
rechte tut, damit deine Wohltätigkeit im Verborgenen bleibe und damit
dein Vater, der im Verborgenen alles sieht, es dir vergelte. Ganz ohne
die Aussicht eines Eigennutzes — denn ist es etwa nicht Eigennutz, wenn
wir den Lohn Gottes zu erreichen suchen? — ganz ohne die Aussicht auf
einen solchen Eigennutz kann auch Jesus seinen Jüngern den Sinn eine
uneigennützigen Handlung nicht vermitteln. Aber wie können wir den
Lohn Gottes anstreben, wenn nicht einmal unsere linke Hand wissen darf, was
unsere rechte tut?
Auch die
Kirchenlieddichter hatten nicht viel Vertrauen in die Bereitschaft des Menschen
zu bedingungslosem guten Handeln. So heißt es in der letzten Strophe des
Liedes, das wir zwischen den beiden Lesungen gesungen haben:
„Ein unbarmherziges Gericht
wird über den ergehen,
der nicht barmherzig ist, der nicht
die rettet, die ihn flehen.
Drum gib mir, Gott, durch deinen Geist
ein Herz, das dich durch Liebe preist.
Hier wird
von uns nicht bedingungslos gefordert, dass wir lieben, sondern es wird uns
mächtig Angst gemacht: Wenn wir nicht lieben, dann wird es uns später
und für alle Ewigkeit schlecht ergehen. Aber wie passt das Bild des
unbarmherzigen Richters zu dem barmherzigen Gott, der uns Menschen ein Vorbild
sein soll? Auch die Kirche hat meistens keine Antwort auf die Widersprüche
des Menschen, so scheint es mir.
Ich
möchte den Predigttext dann doch etwas anders interpretieren. Vielleicht
ist es eine sehr eigenwillige Interpretation, vielleicht steht sie im
Widerspruch zu den Lehren der Kirche, ich weiß es nicht, ich bin kein
Theologe. Ich muss den Text etwas anders interpretieren, denn ich glaube
nicht an mein persönliches Weiterleben nach dem Tode, ich glaube an keinen
Richter, dem ich einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen werde,
all dies sind mir nur schlichte Bilder für etwas viel Allgemeineres, das
wir nicht so leicht begreifen. Mich kann deshalb die Aussicht auf eine
persönliche Belohnung nach dem Tode zu keiner guten Handlung bewegen, und
die Aussicht auf eine persönliche Strafe kann mich von nichts abschrecken.
Dennoch
glaube ich an etwas, was uns Menschen miteinander verbindet und was über
die Sterblichkeit des einzelnen hinausreicht. Ohne dies könnte es meiner
Meinung nach rein biologisch die Menschheit gar nicht geben. Jeder von uns
trägt es in sich, vielleicht in unseren Erbanlagen, und vielleicht hat nur
die Evolution dafür gesorgt, dass es in uns ist. Aber jedenfalls ist unser
Gehirn nicht dafür geschaffen, es vollständig zu begreifen; dennoch
können wir es ahnen, weil es uns manchmal zu Gefühlen und zu
Handlungen verleitet, deren Sinn wir selbst nicht einmal ansatzweise verstehen.
Wenn wir dieses Etwas Liebe nennen, und wenn wir die gesamte Liebe, die uns
Menschen und alle anderen Lebewesen miteinander verbindet, Gott nennen, dann
kann ich ohne Vorbehalte sagen: Ich glaube an die Liebe, die größer
ist als alle Vernunft, ich glaube an Gott, ohne den wir alle nicht da
wären, und ich glaube daran, dass die Liebe Gottes unsere Sterblichkeit
überwindet, denn durch diese Liebe sind wir ein Teil der Natur, die auch
nach unserem Tode weiter besteht.
Ein Satz,
der mich in jedem Gottesdienst, den ich besuche, wieder beschäftigt, ist
derjenige, der ziemlich am Anfang gesagt wird: Lasst uns still werden und vor
Gott bedenken, wer wir sind ——— Ja, wer sind wir vor Gott? Wenn
Gott die Liebe ist, die die Natur auf unserem Planeten verbindet und —
zwar vielleicht nicht ewig, aber doch schon seit mehreren Milliarden Jahren
— am Leben erhält, dann sind wir vor Gott jedenfalls nur ganz
winzige Glieder in einem riesigen Ganzen. Wahrscheinlich ist unser Anteil am
Ganzen so klein, dass es auf uns gar nicht ankommt, unser Tod wäre
für das Ganze eine kleine Wunde, die schnell wieder verheilt. Dennoch
tragen wir die Liebe Gottes in uns, die es nicht gäbe, wenn es nicht viele
Einzelne gäbe, die ebenso unbedeutend sind wie wir. Deshalb kann es nicht
sein, dass wir Gott gleichgültig sind, und darauf können wir
vertrauen.
Vor diesem
Glauben, der mein persönliche Glaube ist, kann unser heutiger Predigttext
als Aufforderung verstanden werden, den Irrglauben aufzugeben, dass wir als
Individuum ewige Glückseligkeit erreichen könnten. Selbst wenn es uns
angeboren ist, dass wir oft nach unserem persönlichen Nutzen streben,
sollen wir daran denken, dass in uns die göttliche Liebe steckt, die nicht
nach unserem persönlichen Nutzen, sondern nach dem Weiterbestehen der
Natur strebt.
Ein guter
Mensch ist, wer Mitleid mit anderen Menschen empfindet und ihnen hilft. Er ist
deshalb ein guter Mensch, weil er nach der göttlichen Liebe gehandelt hat
und damit der Menschheit und der Natur einen Dienst erwiesen hat.
Wahrscheinlich ist es dem Menschen auch angeboren, dass er sich darüber
freut, wenn er etwas Gutes getan hat. Aber der Predigttext erinnert uns, dass
dies vielleicht die Motivation, nicht aber der Sinn der barmherzigen Handlung
sein kann.
Es ist ganz
offensichtlich, dass uns auch das Streben nach eigenem Nutzen angeboren ist.
Und das hat einen guten Sinn: Denn der Allgemeinheit kann nur derjenige dienen,
der zunächst einmal für seinen Selbsterhalt sorgt. Es ist aber ebenso
deutlich, dass wir mit dem Streben nach Eigennutz nicht dauerhaft
glücklich werden können, denn selbst wenn wir immer den größtmöglichen
Erfolg hätten, müssten wir irgendwann sterben, und von alledem bliebe
für uns nichts übrig.
Wer jedoch
daran glaubt, dass er in der Liebe Gottes aufgehoben ist — und das
bedeutet nichts anderes, als dass er als Glied der Natur seinen Anteil zu ihrem
Fortbestehen leistet — der kann auch über persönliches Leid
leichter mit Gleichmut hinwegsehen und sich an dem Wohlergehen der Menschen um
ihn herum und an dem Gedeihen der Natur freuen. Und so kann man —
vielleicht — ein zufriedenes Leben erreichen.
Ich halte es
daher für eine tiefe Wahrheit, dass allein der Glaube an Gott selig macht.
Und ebenso recht hatte Jesus, als er seinen entsetzten Jüngern, die ihn
fragten: Wer kann dann selig werden? antwortete: Bei
den Menschen istfs unmöglich, aber nicht bei Gott, denn alle Dinge sind
möglich bei Gott.g
Amen