Predigt

am 22. März 2009

 

Liebe Gemeinde,

Ungerechtigkeit, Leiden und Tod — das sind die Dinge, mit denen wir uns in der Passionszeit befassen. Es ist die schwierigste Zeit im Kirchenjahr, nach Advent, Weihnachten und Epiphanias, also der Ankündigung, Geburt und Offenbarung Christi, und vor Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten, also Auferstehung und Himmelfahrt Christi sowie der Herabkunft des heiligen Geistes. Niemand, der an diese Ereignisse glaubt, wird sie ungern annehmen. Ganz anders ist es mit der Passion, die den tiefen Einschnitt dazwischen darstellt. Eine Vielzahl von Interpretationen rankt sich um dieses Mysterium, dass Christus, der doch der vollkommenste aller Menschen gewesen sein soll, die schlimmsten Leiden ertragen und den qualvollsten Tod erleiden musste. Und keine dieser Interpretationen ist leicht verständlich.

Ist es nicht sinnlos, den Tod zu erleiden, nur um am dritten Tag wieder auferstehen zu können? Wozu dieser Umweg? Wenn denn Gott Christus und den Menschen ein ewiges Leben zugesagt hat, wäre es nicht einfacher gewesen, Leiden und Tod einfach abzuschaffen? Warum sollte dies dem allmächtigen Gott nicht möglich sein? Was ist es für ein merkwürdiger Gedanke, Gottes Sohn für die Sünde der Menschen leiden zu lassen? Und das in einer Weise, die gerade diejenigen, die es am meisten nötig hätten, anzunehmen nicht bereit sind? Statt den grausamen Taten der Menschen Einhalt zu gebieten, stellt Gott seinen Sohn zur Verfügung, um all die bösen Triebe an ihm auszuleben. Wie kann auf diese Weise die Menschheit gerettet werden?

Und in der Tat scheint es nicht so, dass die Welt durch diese Geschichte besser geworden wäre. Zwar kennen wir viele Individuen, die durch die Kraft der Passion Jesu ein vorbildliches Leben geführt haben, seien es die Märtyrer des Altertums, die von der katholischen Kirche heilig gesprochen wurden, oder seien es Personen wie Dietrich Bonhoeffer, die uns ebendies in der modernen Zeit vorgelebt haben. Aber ehrlich betrachtet — nach einem Blick auf die Weltgeschichte und ihre herausragenden Persönlichkeiten ist es wenig wahrscheinlich, dass das Christentum mehr solche Vorbilder hervorgebracht hat als Religionen, die an die Auferstehung Christi nicht glauben. Und es gibt wenige Anzeichen dafür, dass die Menschheit nach dem Tod Jesu weniger neue Schuld auf sich geladen hätte als zuvor, wenige Anzeichen, dass Christen dafür weniger anfällig wären als die Anhänger anderer Religionen oder auch Atheisten.

Ungerechtigkeit, Leiden und Tod sind allgegenwärtig. Vor unseren Augen werden die einen mit schweren Krankheiten geschlagen, müssen einen qualvollen Tod erleiden, während andere von Gesundheit und Glück gesegnet sind, ohne dass die einen ihr Schicksal mehr verdient hätten als die anderen. Ganze Völker gehen an grausamen Konflikten oder von Menschen herbeigeführten Naturkatastrophen zugrunde, ohne selbst eine Schuld daran zu tragen. Und haben wir nicht selbst unseren Anteil als Täter, da wir durch unseren täglichen Umgang mit der Natur und ihren Resourcen Katastrophen den Weg bereiten? Und ist es nicht wahrscheinlich, dass die Strafe dafür nicht uns selbst, sondern unsere unschuldigen Nachkommen trifft, oder vielleicht schon heute wehrlose Völker in der dritten Welt? Wer wissenschaftlichen Analysen des Zustandes unseres Planeten zuhört, dem fällt schwer, das nicht zu glauben.

 

Die Bibel kann uns keine konkreten Ratschläge geben, wie wir mit den Problemen unserer modernen Welt, mit der Überbevölkerung, mit der Ausbeutung der Natur, mit ethni­schen Konflikten umgehen sollen. Sie sagt uns auch nicht, welches spezifische Handeln von uns in den Zeiten der Wirtschafts­krise gefor­dert ist, in denen die panische Ratlosigkeit der Welt­regie­rungen uns nur vor Augen führt, dass die Strafe wieder einmal die Unschul­digen treffen muss, weil die Schul­di­gen ihren unverdienten Lohn bereits verjubelt haben.

Vielleicht hilft es aber dennoch, auf Jesus zu hören, und zwar nicht nur, um unser Schicksal leichter hinneh­men zu können, sondern auch, um daraus Kraft für unser Handeln zu gewinnen. Wenn wir denn die Bot­schaft richtig verstehen.

Ich glaube, diejenigen Interpreta­tionen, die Jesus als ganz ver­schie­den von gewöhnlichen Menschen darstellen, als unerreichbar und vollkommen, helfen uns wenig. An dem Menschen Jesus exemplifiziert sich, dass Schuld und Sühne, Tat und Anklage, Verdienst und Belohnung unter den Menschen nicht auf­ge­rechnet wird. Jesus ist der eine Extremfall. Selbst wer das vorbildlichste Leben geführt hat, ist vor dem grausamsten Leiden, vor der schlimmsten Verachtung und vor dem frühen Tod nicht sicher. Wahrscheinlich gibt es auch den anderen Extremfall von Menschen, die die schlimmsten Katastrophen über die Mitmenschen und die Na­tur bringen, die an ihrem Han­deln nie in Zweifel geraten, die dafür zu Lebzeiten gelobt und mit einem lan­gen Leben in Sorglosigkeit und Ge­sundheit belohnt werden.

Die meisten Menschen machen bei­de Erfahrungen. Manchmal geht es uns wie Jesus: wir tun etwas Gutes aus Überzeugung und erfahren da­für weder Dank noch Anerken­nung; zum Schluss ergreifen uns Zweifel daran, ob es wirklich gut war, und niemand springt herbei um uns zu trösten. Deshalb steht in der Bibel, Jesus habe am Kreuz geru­fen „Mein Gott, Mein Gott, warum hast du mich verlassen“ — nicht einmal der Zweifel am End­zweck all seines Handelns, die schlimm­ste aller persönlichen Kri­sen, sollte Jesus erspart bleiben.

Und manchmal geht es uns wie den Peinigern Jesu: Wir tun etwas, um unser Leben vor einer unbequemen Wahrheit zu retten, vielleicht sogar im Wissen um das Unrecht, das dadurch Unschuldigen geschieht, und wir werden für dieses Handeln sogar noch belohnt.

Wie gesagt, es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, warum wir so viel ungerechtes Leid erfahren und warum wir so viel ungerechtes Leid über andere bringen. Aber der heutige Predigttext gibt uns einen Denkanstoß, der mir besonders gut gefällt, weil er von fast natur­wissen­schaftlicher Schlichtheit ist. Wir haben den entscheidenden Satz bereits als Eingangsspruch gehört. Ich verlese nun den ganzen Predigt­text, der im Johannesevangelium im 12. Kapitel steht, die Verse 20-26. Die Geschichte handelt fünf Tage vor Ostern, einen Tag, nachdem Jesus bereits angekündigt hat „mich aber habt ihr nicht allezeit“. Jesus kommt nach Jerusalem, wo die Vorbereitungen des Festes im Gange sind, aber auch die Ankunft Jesu ist dem Volk schon bekannt, und viele wollen ihn sehen, da es sich herumgesprochen hat, dass er Lazarus von den Toten aufgeweckt habe. Dort beginnt unser Predigttext:

Es waren aber etliche Griechen unter denen, die hinauf­gekommen waren, dass sie anbe­teten auf dem Fest. Die traten zu Philippus, der von Bethsaida aus Galiläa war, baten ihn und sprachen: „Herr, wir wollten Jesum gerne sehen.“ Philippus kommt und sagt es Andreas, und Philippus und Andreas sagen’s weiter Jesu. Jesus aber antwortete ihnen und sprach: „Die Zeit ist gekommen, dass des Menschen Sohn verklärt werde. Wahr­lich, wahrlich ich sage euch: Es sei denn, dass das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt’s allein. Wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte. Wer sein Leben lieb hat, der wird’s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s erhalten zum ewigen Leben. Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen will, den wird mein Vater ehren.“

Das Weizenkorn, die Frucht, die doch eigentlich der Nahrung dienen soll, kann nur dann eine neue Pflan­ze und damit eine Vielzahl neuer Weizenkörner hervorbringen, wenn es nutzlos zu Boden fällt und damit seinen eigentli­chen Seins­zweck aufgibt.

Ebenso sei es mit ihm, sagt Jesus. Sein Tod sei notwendig, damit Jesus nicht allein bleibe.

Wenn man das Gleichnis naturwissenschaftlich analysiert, scheint es zunächst zu hinken. Die menschliche Leiche ist nicht der Samen, aus dem neues Leben er­wächst. Im Gegensatz zum Weizen­korn braucht der Mensch seinen Körper nicht aufzugeben, um Nachkommen zu erzeugen. Hat Jesus diesen Unterschied nicht erkannt? Ich weiß es nicht, aber es ist auch nicht wichtig. Denn vom Standpunkt der modernen Natur­wissenschaft hat dieses Gleichnis noch eine bessere Interpretation, und mit ihr kann ich als moderner Mensch etwas anfangen. Um das zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen.

 

Im Darwinjahr wird viel über den Gegensatz von Naturwissenschaft und Glaube diskutiert, und oft sind es bekennende Christen, die die Evolutionslehre ganz oder teilweise ablehnen. Ich gehöre zu denjenigen Menschen, die an die Evolution und an Gott glauben, und ich sehe darin auch nichts schwer Vereinbares. Ich bin zwar ein naturwissenschaft­li­cher Laie, aber die Evolutionslehre scheint mir in ihren Grundgedan­ken auch nichts schwer Verständli­ches zu sein, sondern etwas, was von einer inneren und von jedem Laien leicht verständlichen Logik getragen wird. Und je länger ich darüber nachdenke, desto fester komme ich zu der Überzeugung, dass, falls nicht ein Gott die ganze Welt und mit ihren Naturgesetzen und der Evolution zusammen geschaffen hat, dass es dann die Evolution war, die mit den Menschen zusammen auch den Gott hervorgebracht hat, der den Men­schen zum guten Handeln anleitet. Denn das, was die Menschen als gutes Handeln verstehen, kann den einzelnen guten Menschen oft zerstören, aber es macht die Gemeinschaft stärker gegen die Natur und gegen andere Gemein­schaften. Wie es auch irgendwo in der Bibel steht, ist Gott in jedem einzelnen Menschen gegenwärtig, und meiner Meinung nach spricht nichts dagegen zu vermuten, dass er in unserem Erbgut angelegt ist. Natürlich haben auch diejenigen Menschen den Gott in sich, die sich als Atheisten bezeichnen; sie haben ihn nur noch nicht erkannt, oder sie bezeichnen ihn mit anderen Worten.

Man stelle sich einmal vor, es gäbe zwei Gemeinschaften nebeneinan­der, eine, in der die Menschen von keinem inneren Gott zum guten Handeln angeleitet werden, sondern sich nur um ihr persönliches Glück kümmern, und eine andere, in der die Menschen uneigennützig nach dem Guten streben und ihm auch ihr Leben zu opfern bereit sind. In der ersten Gemeinschaft gäbe es sexuelle Befriedigung, aber keine Liebe, und die Menschen würden ohne Hemmungen jedes Verbrechen begehen, für das sie keine Strafe befürchten müssen. Der Tod wäre für sie ein Schrecken, der durch keine Hoffnung gelindert würde.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich die Gemeinschaft mit Gott gegenüber der Gemeinschaft ohne Gott in einer sehr kurzen Periode der Evolution durchsetzen würde. Deshalb gibt es heutzutage keine menschlichen Gesellschaften ohne Gott.

 

Aus evolutionärer Sicht ist die Endlichkeit des einzelnen Lebens absolute Voraussetzung dafür, dass sich eine Art überhaupt anpassen und weiter entwickeln kann. Inso­fern drückt das Gleichnis mit dem Weizenkorn auf einer viel höheren naturwissenschaftlichen Ebene eine großartige Wahrheit aus. Das einzelne Leben muss enden, damit die Menschheit eine Chance auf Fortbestehen hat. Die Passions­geschichte der Bibel erzählt die ganze Wahrheit vom Tod des Menschen. Der Tod ist schmerzhaft, er ist ungerecht, und er stellt den einzelnen Menschen auf eine harte Probe.

Aber Menschen haben die Fähigkeit zu lieben, und die Liebe ist das wichtigste Zeichen, dass wir Gott in uns haben. Und die Liebe, so schreibt Paulus im ersten Korinther­brief

„ist langmütig und freund­lich, ... sie suchet nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, ... sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles. “

Für die Liebe sind die Menschen bereit, den Weg des Leidens zu gehen und den ungerechten Tod zu erleiden. Der Tod für die Liebe ist der ideale Tod, den auch Jesus gestorben ist. Diejenigen Menschen, die unmittelbar für ihren geliebten Ehepartner, für ihr geliebtes Kind oder für eine andere geliebte Person in den Tod gehen, fragen nicht nach Gott, und es ist doch Gott, der ihnen den Weg weist. In Wahrheit aber ist der Tod eines jeden Menschen ein Opfer für die Menschheit, ein Bei­trag zu ihrem Fortbestehen, oder um es mit den Worten des Christen­tums zu sagen, der notwendige Schritt zum ewigen Leben. Dem Menschen ist von der Natur aus gu­tem Grunde nicht die Wahlmöglich­keit der Unsterblichkeit verliehen worden, und so wird ein jeder von uns seinen Kreuzweg gehen müssen, um die Menschheit vor dem Ver­derben zu retten. Wer diese Wahr­heit begriffen hat, der kann seinen Tod als seine letzte gute Handlung annehmen, und Glaube, Liebe und Hoffnung werden ihm das Leiden erleichtern.

 

Aber die Passion Jesu enthält nicht nur eine Botschaft an die Sterben­den und an diejenigen, die dem Leiden wehrlos ausgeliefert sind. Der Sinn dieser Geschichte liegt auch darin, das Mitleiden mit dem unschuldig Geschlagenen und somit das Mitleiden mit allen unschuldig Geschlagenen unserer Welt zu erwecken. Und somit ist sie auch eine Geschichte für die Starken und Gesunden in unserer Gesellschaft, für die Tatkräftigen und Mächtigen, damit sie die Folgen ihres Tuns für die Schwachen in der Gesellschaft und für den Fortbestand der Menschheit bedenken und innerlich mit denen mitleiden, die leiden müssen. Denn es steht zwar nicht in unserer Macht, alle Ungerechtig­keiten in dieser Welt zu beseitigen, aber es ist unsere Liebe, die die Ungerechtigkeit abmildert und die sie selbst dort erträglich macht, wo sie nicht gemildert werden kann. Der Auftrag, den Gott den Tat­kräf­tigen in dieser Welt gegeben hat, ist, so zu denken, so zu reden und vor allem so zu handeln, dass die Schwachen in der Welt diese Liebe erfahren können. Und des­halb wird auch eine gute Politik nicht nur nach konkurrierenden Interessen, Ansprüchen und Rechten fragen, sondern sie wird vor allem darauf achten, dass sie in den Menschen das Gute weckt. Denn wir dürfen darauf vertrauen, dass es den Menschen von Gott gegeben ist, wir müssen es nur zur Entfaltung bringen.

 

Amen