Predigt zum Sonntag Quasimodogeniti, 11. April 2010, in der Kreuzkirche Tokyo
Liebe Gemeinde,
ich habe mich heute entschieden, die Predigt über
ein Gemeindelied zu halten. Es ist das Lied Nr. 273, das von Martin Luther nach
dem 12. Psalm gedichtet und komponiert wurde. Nur die ersten fünf Strophen
sind von Martin Luther, deshalb werden wir die sechste Strophe nicht singen.
Nach jeder einzelnen Strophe werde ich einen Teil meiner Predigt halten. Zu
Beginn singen wir also vom Lied 273 die erste Strophe.
Ach Gott, vom Himmel sieh darein
und lass dich des erbarmen,
wie wenig sind der Heilgen dein,
verlassen sind wir Armen.
Dein Wort man lässt nicht haben wahr,
der Glaub’ ist auch verloren gar
bei allen Menschenkindern.
Wäre nicht die altertümliche Sprache der Liedstrophe,
die wir eben gesungen haben, könnte man sie für eine
Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes der Christenheit halten.
Luther hat sie nach den Worten des 12. Psalmes gedichtet, wo es heißt
„Hilf, Jahwe! denn es schwinden die Frommen, denn es nehmen ein Ende
Getreue aus den Menschenkindern“. Das heißt, übersetzt in unsere
moderne Sprache: „Lieber Gott, es gibt nur noch wenige Menschen, die
deine Lehre ernst nehmen. Wir, die wir uns in deinem Namen
versammeln, sind von der Gesellschaft verlassen. Hilf uns doch!“ Oft
hört man heute solche Klagen, und vielleicht hört man sie von
Christen in Japan noch häufiger als in Europa. Dass diese Worte jahrtausendealt
sind, dass sie von Luther verdichtet wurden und dass sie seit fast 500
Jahren im Gesangbuch stehen, sollte uns zu denken geben. Vielleicht steht
es gar nicht so schlecht um die Christen heutzutage, oder, richtiger gesagt,
vielleicht war es um die Christen noch nie besser bestellt als heute? Es mag
zwar heute mehr Menschen als früher geben, die sagen, dass sie mit
Religion nichts am Hut haben. Aber viel schlimmer als diejenigen, die
offen sagen, dass sie von der Kirche nichts halten, sind ja diejenigen, die in
der Kirche sind und durch ihr verlogenes Handeln nicht nur sich
selbst, sondern das Christentum insgesamt in Misskredit bringen.
„Wie wenig sind der Heilgen dein“, schreibt Luther, und vermutlich denkt
er an die Ablasspraxis, die im Namen des Seelenheils mit falschen Versprechungen
den unschuldigen Gläubigen das Geld aus der Tasche zog, um
der Kirche die Profite zu sichern. Wie die Geschichten sich doch wiederholen!
Denn ganz ähnlich ist es bei dem Missbrauchsskandal an so
vielen christlichen Schulen, der in der letzten Zeit die Berichterstattung
über die Kirchen beherrscht. Der ganze Skandal begann am Berliner
Canisius-Kolleg, ausgerechnet an der Schule, an der mein ältester
Sohn Abitur gemacht hat. Es ist eine unsägliche Geschichte von
Verlogenheit und Wahrung des äußeren Scheins zum
Schaden der schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft,
wobei die verantwortlichen Vorgesetzten mit ihrer Vertuschungspraxis
vermutlich der Kirche zu dienen glaubten. Jedenfalls ging es den Kirchenoberen,
die diese Vertuschung nicht nur gebilligt, sondern explizit gefordert
und gefördert haben, mehr um die Wahrung des Heiligenscheins
als um die Wahrung der Heiligkeit! Der Vergleich mit dem Ablassstreit
ist sicher nicht zu weit hergeholt. Wir singen die zweite Strophe von dem
angefangenen Lied.
Sie lehren eitel falsche List,
was eigen Witz erfindet;
ihr Herz nicht eines Sinnes ist
in Gottes Wort gegründet:
der wählet dies, der andre das,
sie trennen uns ohn’ alle Maß
und gleißen schön von außen.
„Der wählet dies, der andre das, sie trennen
uns ohn’ alle Maß“ — das ist Luthers Aktualisierung der Psalmverse
für seine Zeit, denn in der Bibel selbst heißt es „Lug reden
sie jeder mit seinem Nächsten, glatte Lippe mit zweierlei Herzen reden
sie“, das heißt, die Psalmverse sprechen von der Verlogenheit jedes
einzelnen, Luther aber spielt unverkennbar auf die Spaltung der Kirche durch
die Reformation an. „Der wählet dies, der andre das, sie trennen und
ohn’ alle Maß.“ Für mich ist aufschlussreich, dass Luther hier nicht
die Verlogenheit der katholischen Kirche in die Schuhe schiebt und die
Kirchenspaltung rechtfertigt, sondern trotz all dieser Verlogenheit,
oder gerade deswegen, die Kirchenspaltung beklagt und die Einigkeit der
Christen einfordert. Auch heute ist es wie zu Luthers Zeit: Die offenen
Missstände der Kirche scheinen die katholische mehr zu betreffen als die
evangelische, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass dieser
Unterschied nicht System habe: Die hierarchische Struktur der katholischen
Kirche und der Zölibat haben es begünstigt, dass katholische
Einrichtungen von dem Missbrauch häufiger betroffen sind als
evangelische, keine Frage. Aber diejenigen, die die evangelische Kirche in
der Öffentlichkeit vertreten, wissen nur zu gut, wie verwundbar
sie selber sind. Man könnte fast sagen, der Skandal um die EKD-Ratsvorsitzende,
Margot Käßmann, habe die evangelische Kirche zum richtigen
Zeitpunkt erwischt, um sie vor falschem Hochmut zu bewahren. Darum
haben führende Protestanten sich in der Diskussion um den
Missbrauchsskandal mit Schuldzuweisungen bisher weise
zurückgehalten. Aber, einmal ehrlich, wie viele evangelische Christen
haben den Skandal wohl mit einem lachenden und einem weinenden Auge
verfolgt, das lachende Auge deshalb, weil man die Gründe dafür in Strukturen
sieht, vor denen man selbst sicher zu sein glaubt? Luther mahnt uns, so nicht
zu denken, denn gerade damit machen wir uns selber schuldig, mit zweierlei
Herzen zu urteilen. Nein, wir müssen die Spaltung der Christenheit
beklagen, und wenn wir sie beklagen und die Einheit einfordern, dann nehmen
wir auch die Missbrauchstäter und die Vertuscher auf in unsere
Gemeinschaft. Die Bibel hat nie um die simple Tatsache herumgeredet, dass die
Christenheit eine Versammlung von Sündern ist, die sich ohne Gottes Hilfe
von ihrer Sünde nicht befreien können. Das schließt uns selber
mit ein und sollte uns auch in dieser schwierigen Zeit davor bewahren, mit dem
Finger auf die anderen zu zeigen. Die Missbrauchsvorwürfe sind
nicht eine Krise der katholischen Kirche, sondern eine Krise der
Christenheit. Gerade in dieser Zeit sollten wir unseren katholischen
Brüdern und Schwestern in der Buße beistehen, und gerade
dadurch sollten wir in der Ökumene einen Schritt vorankommen.
Wir singen die dritte Strophe des angefangenen
Liedes.
Gott wolle wehren allen gar,
die falschen Schein uns lehren,
dazu ihr Zung stolz offenbar
spricht: „Trotz! Wer will’s uns wehren?
Wir haben Recht und Macht allein,
was wir setzen, gilt allgemein;
wer ist, der uns sollt meistern?“
In den Worten des Psalms heißt es „Es tilge
Jahwe alle glatten Lippen, die großsprecherischen Zungen, die
das sagen: ‚Hinsichtlich unserer Zunge beweisen wir Stärke.
Unsere Lippen sind mit uns; wer ist Herr über uns?‘“ In moderne Worte
übersetzt heißt das „Gott soll alle die vernichten, die
große Rhetorik schwingen und sich wegen ihrer Reden für
unangreifbar halten.“ Falschheit und Rechthaberei gab es vor 2000 Jahren ebenso
wie zu Luthers Zeiten. Heute ist es nicht anders, und es wird auch künftig
nicht besser sein. Die Mächtigen vertrauen auf ihre Worte, um ihre eigenen
Wunden zu verbergen und auf die Wunden der anderen zu zeigen. All
diese Worte helfen den Opfern nicht. Derzeit werden die Täter von
damals an den Pranger gestellt, weil man so die Verantwortung abschieben
kann. Und zwar nicht nur die Verantwortung der Täter, sondern auch die
Verantwortung der Vorgesetzten, die die Taten nicht verhindert haben,
die Verantwortung der Zeugen, die nichts gesagt haben, die Verantwortung
derjenigen, die Zweifel hatten und nicht gefragt haben, und sogar die Verantwortung
der Opfer, die anderen Opfern hätten helfen können, wenn sie ihr
eigenes Leid früher öffentlich gemacht hätten. Es ist
nichts anderes als eine Flucht nach vorn. Jeder redet sich so heraus, dass der
Schaden so gering wie möglich und jedenfalls nicht an der
eigenen Person hängen bleibt. Dabei wäre es die Aufgabe der Christen,
insbesondere der Repräsentanten unserer Kirche, öffentlich zu
sprechen, wie es im 51. Psalm steht „Gott, sei mir gnädig nach
deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit.
Wasche mich rein von meiner Missetat, und reinige mich von
meiner Sünde; denn ich erkenne meine Missetat, und meine Sünde ist
immer vor mir.“
Wir singen die vierte Strophe.
Darum spricht Gott: „Ich muss auf sein,
die Armen sind verstöret;
ihr Seufzen dringt zu mir herein,
ich hab’ ihr Klag erhöret.
Mein heilsam Wort soll auf den Plan,
getrost und frisch sie greifen an
und sein die Kraft der Armen.“
Die Kirche kann für die Opfer vielleicht materielle
Hilfe leisten, und das ist auch sicherlich nicht überflüssig.
Dennoch gibt es Wichtigeres. Die Kirche kann den Menschen Vertrauen in die
Kraft Gottes geben, die auch dann noch hilft, wenn alle anderen Hilfen in
dieser Welt versagen. Aber Vertrauen zusprechen kann die Kirche
nicht, indem sie sagt: „Wir sind Gott, wir können euch retten, wir
haben die Lösung für eure Leiden.“ Das wäre nicht glaubwürdig,
und das ist genau der Fehler, vor dem die dritte Strophe unseres Liedes warnt.
Sie kann es nur, indem sie sich hinstellt und sagt: „Ja, wir sind die
sündige Kirche, wir sind schuld an dem Übel in der Welt, wir sind
ratlos, wie wir diese Schwierigkeiten meistern sollen, wir haben große
Angst, für all dieses Unrecht die gerechte Strafe zu erleiden, und wir
wissen, dass wir schon morgen wieder sündigen werden. Aber wir
hoffen auf Gott, und wir hoffen besonders, dass Gott all denjenigen
beistehen mag, die unter unserer Sünde zu leiden haben.“ Wenn die Kirche
sich so präsentieren würde, könnte sie sich nicht
rechtfertigen, sie könnte die Vergebung ihrer Sünden nicht verlangen
und vielleicht nicht einmal in diesem Leben erwarten, aber sie könnte auf
die Vergebung der Sünden hoffen, und in dieser Hoffnung könnte sie auf Gott
vertrauen.
Wir singen die fünfte Strophe.
Das Silber, durchs Feu’r siebenmal
bewährt, wird lauter funden;
von Gotts Wort man erwarten soll
desgleichen alle Stunden.
Es will durchs Kreuz bewähret sein,
da wird sein Kraft erkannt und Schein
und leucht stark in die Lande.
Nicht wenige Menschen denken wahrscheinlich dieser
Tage, dass die christliche Lehre durch die große Anfechtung, die sie
durch die Missbrauchsskandale erfahren hat, großen Schaden
nehmen wird. In der Tat haben sich manche Leute von der Kirche abgewandt,
es hat Kirchenaustritte gegeben. Andere Menschen, die nicht
ausgetreten sind, haben das Vertrauen in ihre Geistlichen verloren und
haben einen Zufluchtsort verloren, dem sie sich bisher zuwenden konnten, wenn
sie Probleme hatten. Die öffentliche Reputation der Kirche hat wirklich
schweren Schaden genommen.
Wenn daraus jetzt Verantwortliche der Kirche die
Konsequenz ziehen, die Kirche von der Sünde reinwaschen zu
wollen, indem sie sich von den größten Sündern trennen und
die Strukturen, die die Sünde ermöglichten, verändern, ist das
zwar eine menschlich verständliche Reaktion, und vielleicht ist es
auch nützlich und notwendig. Nur an der Tatsache, dass die Kirche eine
Versammlung von Sündern ist und immer bleiben wird, ändert das
gar nichts, und zu glauben, dass man dies ändern könne,
wäre im Widerspruch zu Gottes Wort, das in den Kirchen jeden Sonntag
gepredigt wird. Die Kirche wird jetzt, wie schon oft in ihrer Geschichte,
von der Größe ihrer Sünde eingeholt, und das ist eine der
Prüfungen, von denen der 12. Psalm und unsere 5. Liedstrophe
sprechen. Nicht dadurch, dass wir die Prüfung kleinreden, nicht dadurch,
dass wir dieser Prüfung ausweichen, wird der christliche Glaube diese
Prüfung bestehen. Nein, wir müssen bußfertig auf diese
Prüfung zugehen, wir müssen das Kreuz auf uns nehmen, wir
müssen uns dem Vollzug der gerechten Strafe stellen, die nun unsere Kirche
trifft und die uns als Gemeindemitglieder mit trifft. Wir können
nicht anders, wir müssen darauf vertrauen, dass das Wort Gottes
stärker ist als alle diese Prüfungen. So hat es Jesus getan, als er
seiner Kreuzigung entgegen sah. Er hat es getan, nicht weil ihn
eine persönliche Schuld traf, sondern er tat es für seine
sündige Gemeinde, und er tat es im festen Vertrauen darauf, dass
Gott sein Wort halten werde.
Zu Luthers Zeiten ist zwar die Kirche an der Größe ihrer Sünde zerbrochen,
aber das Wort Gottes ist an ihr nicht zerbrochen. Wir sollten keine Angst davor
haben, dass sich nun einige Strukturen verändern, dass vielleicht
auch gewohnte und geliebte Dinge irgendwann der Vergangenheit
angehören werden. Aber wir sollten in dieser Zeit als Zeugen
für das Vertrauen in die Beständigkeit des Gotteswortes aufrecht vor der Weltöffentlichkeit stehen.
Das Ostergeschehen soll uns dieses Vertrauen geben.
Passion und Auferstehung — das sind nicht geschichtliche Ereignisse,
das ist keine Erzählung von irgendeinem Menschen, es ist kein einmaliges
Wunder, sondern es steht beispielhaft dafür, was in unserer Welt jeden Tag
geschieht. Jeden Tag müssen wir das Leiden von unschuldigen Menschen
mit ansehen, manchmal müssen wir selbst unschuldig die Strafe
für die Sünden anderer auf uns nehmen. Aber oft sind wir auch
selbst die Täter, Schuldige oder Mitschuldige, und wir
können uns selbst nicht von unserem sündigen Tun befreien,
selbst wenn wir es gerne wollten. Aber der Glaube kann uns Kraft geben, in
diesen Leiden zu bestehen, bis zum Lebensende und über den Tod
hinaus. Möge uns in der Osterzeit diese Kraft zuteil werden.
Amen