Sonderausstellung „Musica ex Machina“ im Komaba-Museum

 

Oktober-Dezember 2007

日本語

Komposition von Hermann Gottschewski

Diese Komposition war ursprünglich ein Streichquartettsatz (komponiert 2001), der bisher je­doch wegen seiner irrationalen Rhythmik nie aufgeführt wurde. Auf der Ausstellung 2007 wurde die Uraufführung des Werkes in einer Bearbeitung für den Yamaha-Diskflügel realisiert. Auf der Homepage von Hermann Gottschewski kann die Fassung von 2007 (mp3aiff), eine Bearbeitung für das Yamaha Stage Piano CP300 von 2009 (mp3aiff) sowie eine weitere Fassung für den Yamaha-Diskflügel angehört werden, die 2009 an der Musikhochschule Freiburg erarbeitet wurde (mp3aiff). Für die Ermöglichung der letzten Version sowie der Aufnahme beider Diskflügel-Versionen sei der selbstlosen Unterstützung und fachkundigen Beratung durch Herrn Professor Sischka und seine Studenten sowie der Musikhochschule Freiburg für die Bereitstellung des Instrumentes und der Technik recht herzlich gedankt. In Freiburg entstand auch ein auf Video dokumentierter Vortrag, dessen Powerpointpräsentation unter anderem den vollständigen Notentext des Stückes enthält.

Unter „irrationalen Zahlen“ stellen sich die meisten Menschen etwas Kompliziertes vor. Und ohne Zweifel ist der oben auf dieser Seite stehende Titel meines Werkes, der in einer mathematischen Formel besteht, nicht auf den ersten Blick durchschau­bar. Um den Wert dieser Formel zu berechnen, benötigt man mindestens eine gute Rechenmaschine. Dennoch handelt es sich nicht um eine komplizierte Zahl, sondern um die Lösung der Gleichung x3 – x2 = 1. Der Wert dieser Lösung ist etwa 1,466.

Die rhythmischen Strukturen komponierter Musik verwenden normalerweise haupt­sächlich die Verhältnisse 1 : 2 und 1 : 3 sowie Potenzierungen und Kombinationen davon. Irratio­nale Pro­por­tionen kommen nicht vor. (Ob in aufgeführter oder improvisierter Musik irrationale rhyth­mi­sche Verhältnisse vorkommen, lässt sich nicht sagen, da ein irrationales Verhältnis von einem komplizierten rationalen Verhältnis empirisch nicht unterschieden werden kann.) Ratio­na­le Verhältnisse in der Musik haben den Vorteil, dass man daraus leicht Strukturen bauen kann, bei denen alles zueinander passt. Wenn zum Beispiel ein Pianist in der rechten Hand Achtel und in der linken Hand Achteltriolen spielt, also ein Tempoverhältnis von 2 zu 3 zwi­schen rechter und linker Hand realisiert, gibt es zwar immer einige Noten, die nicht gleichzeitig kommen (deshalb ist diese rhythmische Kombination für Anfänger schwer zu realisieren), aber auf den Viertelschlägen kommen immer beide Hände gleichzeitig, und somit hat alles seine Ordnung. Auch der Hörer kann dies leicht nachvollziehen. Würde man hingegen in zwei Stimmen gleichmäßige Noten in einem irrationalen Tempoverhältnis spielen, kämen vielleicht am Anfang zwei Töne gleich­zeitig, aber danach nie wieder. Das wäre vollkommen unmöglich auszuführen, und falls man es doch ausführen könnte, wäre es für den Hörer sehr verwirrend. (Conlon Nancarrow hat allerdings solche Werke für mechanisches Klavier komponiert.)

Ich habe jedoch vor einigen Jahren herausgefunden, dass dies nur gilt, wenn man gleich­mäßi­ge Noten in beiden Stimmen spielt. Verwendet man hingegen Rhythmen, in denen ver­schie­dene, in einem irrationalen Verhältnis zueinander stehende Notenwerte vorkommen, kann man rhyth­mische Strukturen erzeugen, in denen alles zusammen passt und auch leicht ver­ständlich klingt. Dieses Werk habe ich kompo­niert, um diese Tatsache zu demonstrieren. Ich habe des­halb bewusst darauf verzich­tet, abgesehen vom Rhythmus andere ungewohnte oder neuartige Din­ge einzukompo­nieren, damit die leichte Verständlichkeit in keiner Weise beein­trächtigt wird.

Ich möchte, ehe ich die rhythmische Struktur dieses Werkes erkläre, zunächst mit einem noch einfacheren Beispiel beginnen. Es gibt ein Verhältnis, das „goldener Schnitt“ genannt wird. Wenn eine Strecke im Verhältnis des goldenen Schnitts in zwei Teile geteilt wird, verhält sich der kleinere der beiden Teile zum größeren so wie der größere Teil zur ganzen Strecke. Es gilt also die Gleichung 1 : x = x : (1 + x). Die Zahl x drückt das gesuchte Verhältnis aus. Es handelt sich auch um eine irrationale Zahl, deren Wert etwa 1,618 ist. Die Gleichung lässt sich umformen zu x2 – x = 1. Sicherlich haben Sie die Ähnlichkeit zu der oben angegebenen Formel sofort bemerkt. Das Verhältnis des goldenen Schnittes ist die Lösung einer quadratischen Gleichung, während das meiner Komposition zugrunde liegende Verhältnis aus einer kubischen Gleichung hervorgeht.

Wenn man die Notenlängen eines Stückes so festlegt, dass jeder rhythmische Wert (also jede vor­kommende Notenlänge) zum nächstgrößeren im Verhältnis des goldenen Schnittes steht, kann in einer Stimme ein rhythmischer Wert mit dem nächst­kleineren Wert kombiniert werden, während eine andere Stimme gleichzeitig den nächst­größeren Wert spielt: Die Stimme mit den zwei Noten teilt dann den rhythmischen Wert der anderen Stimme gerade im Verhältnis des gol­denen Schnittes. Wie unten gezeigt, könnte man in einer solchen Komposition einen rhyth­mi­schen Kanon ausführen, in dem die Stimmen im Tempoverhältnis des goldenen Schnittes zu­ein­an­der stehen. Das heißt, die Stimmen würden exakt den selben Rhythmus in verschiedenem Tem­po ausführen. Trotz des irrationalen Tempoverhältnisses würden alle Stim­men synchron zu­einander fortschreiten. Im Prinzip könnte man beliebig viele Stimmen so kombinieren. Für ei­nen vierstimmigen Satz bräuchte man fünf verschiedene Noten­werte, die zueinander im Ver­hält­nis des goldenen Schnittes stehen. In der Graphik unten sind zunächst die fünf Notenwerte in ihrem Längenverhältnis durch verschiedenfarbige Balken, dann die Kombination der Noten­wer­te im vierstimmigen Satz dargestellt. Jede einzelne Stimme benutzt nur zwei verschiedene Notenwerte.

In meiner Komposition habe ich etwas sehr ähnliches gemacht, nur eine Spur komplexer. Ich habe Notenwerte verwendet, die genau in demjenigen Verhältnis zueinander stehen, bei dem die Kom­bination eines Wertes mit dem übernächst kleineren den nächstgrößeren Wert ergibt. Dadurch wird die rhythmische Struktur etwas kompli­zier­ter: es sind drei verschiedene Noten­wer­te in einer Stimme notwendig, um zu einer synchronen Kombination zu kommen. Dem­ent­sprechend ist es musikalisch interessanter. Außerdem wird jetzt ein rhythmischer Kanon im Tem­po­­verhältnis 1 : 1,466 möglich, d.h. die Stimmen unterscheiden sich in ihrem Tempo weni­ger als im Falle des goldenen Schnittes. Dadurch kann ein vierstimmiger rhythmischer Kanon noch gut aus­geführt werden, ohne dass es in den Außenstimmen zu extremen Tempi kommt.

Unten ist genau die rhythmische Struktur dargestellt, die ich in meinem Stück verwendet habe. Wie in dem Beispiel mit dem goldenen Schnitt beruht sie auf einem strengen rhythmi­schen Ka­non zwischen allen Stimmen. Im Mittelteil gibt es auch einen durch alle vier Stimmen gehen­den melodischen Kanon, was allerdings schwierig zu hören ist. Leichter zu hören ist, wie im Anfangs- und Schlussteil ein neuntöniges Motiv nacheinander in Sopran, Alt, Tenor und Bass ge­spielt wird, wobei das Tempo jedes Mal im Verhältnis 1 : 1,466 langsamer wird. Um den rhyth­mischen Kanon optisch deut­li­cher zu machen, habe ich in der folgenden Graphik die Far­ben nicht für konstante rhythmische Werte, sondern relativ zum Tempo der jeweiligen Stimme eingesetzt.

Vielleicht gehören Sie zu den Menschen, denen alles, was mit Zahlen und Formeln zu tun hat, kom­pliziert vorkommt. Aber hören Sie bitte hin: Es klingt gar nicht kompliziert. Ich glaube, dass Musiker schnell in der Lage wären, diese neue Rhythmik zu erlernen. Nach einer kur­zen Phase der Gewöhnung erschließen sich aber neue Dimensionen der Rhythmus- und Tempo­erfah­rung.